Wesentliche Bestandteile einer Stadt sind zum einen die Gebäude und physisch-materiellen Strukturen, zum anderen die Menschen, die diese Strukturen mit Leben füllen. Der Urbanitätsbegriff umfasst die gelebte, soziale Dimension von Stadt. Urbane Situationen sind typischerweise durch eine hohe soziale Dichte und Vielfalt bei einem gleichzeitig hohen Anonymitätsgrad geprägt. Aus diesen Rahmenbedingungen folgt eine strukturelle Unvorhersehbarkeit und Unbestimmtheit städtischen Lebens – Urbanität ist kontingent (Dirksmeier 2009).
Der physische Stadtraum galt lange als Voraussetzung für die Produktion von Urbanität, da hier viele unterschiedliche Menschen dicht und häufig anonym zusammenleben (Wirth 1938). Für postmoderne Gesellschaften hingegen wird die Rolle des physischen Stadtraums in der Produktion von Urbanität infrage gestellt – das Internet und ein nie zuvor gekanntes Maß an physischer Mobilität erlauben eine Projektion von Urbanität bis in die entlegensten Winkel dieser Erde. Gleichzeitig werden demographisch schrumpfende bzw. geschrumpfte Städte – sofern sie in der Urbanitätsforschung überhaupt thematisiert werden – als Orte der Desurbanisierung beschrieben. Der physische Stadtraum und der darin zu beobachtende Bevölkerungsrückgang wird in diesem Fall wiederum in einen direkten Zusammenhang mit den sozialen Qualitäten von Stadt gestellt (Lefebvre 1970; Dirksmeier 2020; Häußermann und Siebel 1988).
Das Promotionsvorhaben greift diese Thematik auf und beschäftigt sich mit der Frage nach den Wechselwirkungen zwischen sozialem und physischem Raum in geschrumpften Städten im Hinblick auf die Herstellung von Urbanität als Kontingenz. Das zugrundeliegende Verständnis von Stadtschrumpfung basiert auf langanhaltenden Bevölkerungsverlusten, die signifikante strukturelle Leerstände von Gebäuden in der Stadt nach sich ziehe. Von strukturellem Leerstand ist die Rede wenn Gebäude, Räumlichkeiten oder sonstige Infrastrukturen längerfristig über den Bedarf hinaus zur Verfügung stehen und bis auf Weiteres keine gesellschaftliche Funktion mehr erfüllen.
Vorhandene Forschungen zeigen, dass nicht ausgelastete Infrastrukturen und leerstehende Gebäude Wegbereiter für alternative sozial-räumliche Praktiken und Raumaneignungen sein können (Schwarting 2009; Hertzsch et al 2013). Der Architekt und Philosoph Ignasi de Solà-Morales (1995) verwendet den Begriff des terrain vague, um auf die gesellschaftliche Potenzialität und Kontingenz von Leerstand hinzuweisen.
Zur Annäherung an die Forschungsfrage werden in dem Promotionsvorhaben sozialer und gebauter Raum in handlungstheoretischer Perspektive miteinander verknüpft. Demnach stellen menschliche Handlungen das kleinste Element des Sozialen dar. Handlungen wirken gleichzeitig auf den sozialen wie den physisch-materiellen Kontext, in dem sie stattfinden, und werden wiederum durch ihren Kontext beeinflusst. Struktureller Leerstand in geschrumpften Städten wird als physisch-materieller Kontext menschlichen Handelns fokussiert. Dabei ist von vordergründigem Interesse, ob Leerstand im Sinne eines terrain vague (s.o.) als kontingentes Moment in Wahrnehmung, Denken und Handeln der Stadtnutzer integriert wird – und in diesem Sinne zur (Re-)produktion von Urbanität in schrumpfenden Städten beiträgt.
Walking Interviews, durchgeführt in der geschrumpften Mittelstadt Görlitz, untermauern die handlungstheoretische Auseinandersetzung mit der Fragestellung nach der Produktion von Urbanität im Kontext von Leerstand und Schrumpfung.
Mit diesem Ansatz leistet das Promotionsvorhaben einen Beitrag zum Verständnis sozial-räumlicher Dynamiken in schrumpfenden Städten. Der Blick auf Leerstand als Wegebereiter urbaner Momente in der Schrumpfung hält dem gängigen Verständnis von Leerstand als Bedrohung für die Stadtentwicklung ein alternatives Narrativ entgegen. Demnach kann Leerstand gesellschaftliche Möglichkeitsräume eröffnen – vorausgesetzt, die rechtlich-politischen Rahmenbedingungen begünstigen eine aktive Auseinandersetzung mit und eine Aneignung des Leerstands durch die Menschen in der Stadt. Eine solche Sensibilisierung für das gesellschaftliche Potenzial von Leerstand erscheint im Sinne einer effizienten Raum- und Ressourcennutzung nicht zuletzt aus ökologischer Sicht dringend angebracht.